Wer seine westdeutschen Vorurteile über den Osten nicht ruinieren lassen will, der sollte Mecklenburg meiden. Ich bin in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und die DDR kenne ich nur von einem Schulausflug, der uns 1984 wie eine Safari vorkam. Die deutsche Einheit lief dann irgendwann im Fernsehen. In den 90ern zwei oder drei kurze Reisen in die neuen Länder, später noch ein Abend am Prenzlauer Berg und ein Wochenende in Heiligendamm, das war’s dann auch schon mit meiner Ost-Erfahrung.
Dann hatte zu Hause jemand die Idee, Ferien auf dem Bauernhof zu machen. Bauernhöfe gibt es viele, am Ende gaben die großzügigen Innenräume den Ausschlag (was in der Ferien-auf-den-Bauernhof-Branche übrigens eine echte Marktlücke ist). Die Wahl fiel also auf Gut Dalwitz in 17179 Walkendorf, Landkreis Rostock.
Wir buchten im Januar so spontan, dass ich die Reise bis August in Gedanken mindestens viermal storniert habe. In Mecklenburg? Eine Autostunde von der Ostsee entfernt und noch nicht einmal ein größerer See in der Nähe? (Im Touristik-Deutsch heißt diese Gegend neuerdings „Mecklenburger Parkland“, irgendwie muss man eine Gegend mit viel Landschaft und wenig Badegewässern ja vermarkten). Ich weiß jetzt immerhin, dass es nicht nur eine innere Emigration gibt, sondern auch eine innere Reise-Stornierung.
Ich rechnete mit einer Art ostdeutschen BRD. Mit ländlichen Siedlungen, die eher Wohngegenden als Dörfer sind, mit sterilen Zierrasen um häßliche Anbauten und mit vielen kleinen Gewerbegebieten voller Aldi, Lidl und Kick. So wie in der westdeutschen Provinz eben, nur mit weniger Hoffnung, weniger Frauen und mehr Neonazis. Aber so war es in Mecklenburg nicht.
An das bucklige Straßenpflaster muss man sich zwar gewöhnen, auch an die Vorliebe vieler Mecklenburger für schlammpfützenfarbene Hauswände. Aber die dezent gewellte Landschaft mit ihren Buchenalleen, Getreidefeldern und Laubwäldern kann man nur lieben. Ein Spot für Karo-Kaffee ist nichts dagegen. Äpfel und Mirabellen haben wir am Rand der Landstraße von den Bäumen pflücken können; sie stehen da so selbstverständlich wie anderswo Straßenlaternen. Kauft dort überhaupt jemand Äpfel?
Die Dörfer fallen nicht weiter auf; sie sind unspektakulär, ohne die in Norddeutschland sonst übliche Reetdach-Folklore. Interessante Menschen leben da. Unser eigener Vermieter ist ein gutes Beispiel. Ein Agrarwissenschaftler und früherer Entwicklungshelfer, der gemeinsam mit seiner uruguayischen Frau das Gut seines enteigneten Großvaters zurückerworben hat. In über 20 Jahren haben die beiden einen ökologischen Musterbetrieb aufgebaut und zwischendurch auch schon mal Prinz Charles über den Hof geführt. Ihre Geschichte erschien 2011 in einer „Geo Special“-Ausgabe über Mecklenburg-Vorpommern; eigentlich klingt es wie der perfekte TV-Stoff.
Das Gut gibt nicht nur den Einheimischen Arbeit. Beim wöchentlichen Asado, dem südamerikanischen Barbecue im Gutspark, lernten wir Alfred kennen, einen Rentner aus Köln. Er hat lange in Namibia gelebt und ist vor einem Jahr in eines der Nachbardörfer von Dalwitz gezogen. Wenn er Lust hat, hilft er dem Grafen bei der Landschaftspflege. Südwestafrika sei ihm auf die Dauer zu einsam und seine rheinische Heimat „zu voll“, erzählte er. Mecklenburg, das am dünnsten besiedelte Bundesland ist ein guter Kompromiss für ihn.
Dann gibt es im Ort die tüchtige Frau Kümmel, die nach der Wende einen Schweinestall zum florierenden Klein-Supermarkt umgebaut hat. Im Sommer öffnet sie auch sonntags – wenn sie nicht gerade für einen Kunden frischen Dill aus dem Garten holt (weshalb wir bei unserem ersten Besuch ein bißchen auf sie warten mussten). Überhaupt, die Gärten: Bei vielen Mecklenburgern möchte man gern mal zum Mittagessen eingeladen werden; Obst, Gemüse und Kräuter bauen sie dort an, wo man im Sauerland den Rasen mähen würde. Oft laufen auch noch Hühner, Gänse oder Schafe im Garten herum. Wegen der Gänse wäre eines Esseneinladung im Spätherbst besonders nett.
Viele historische Gutshäuser sind vor dem Verfall gerettet worden. Erst einmal, denn das Ende der Geschichte ist meist noch offen. Es muss eine ziemlich bunte Szene sein, die sich an die Renovierung wagt. Ein dänisches Ehepaar hat sich in der Nachbarschaft von Dalwitz niedergelassen und ein Herrenhaus namens Rensow restauriert; heute veranstalten die beiden Abendessen nach Voranmeldung und dazu noch jeden Mittwoch eine Art Selbsthilfegruppe für Schlossbesitzer. Zum Beispiel für Leute, die für verführerisch wenig Geld halbe Ruinen gekauft haben und damit überfordert sind. Auch das gibt es.
Skinheads habe ich übrigens in zwei Wochen Mecklenburg nicht gesehen. Was leider nichts an den Wahlerfolgen der NPD in Mecklenburg-Vorpommern ändert. Es gibt Rechtsextremismus, aber scheinbar zeigt er sich nicht gerne.
Gar nicht ostdeutsch wirkt übrigens die Landeshauptstadt Schwerin, die übrigens eine architektonische Perle ist und ganz ohne hanseatisches Maritim-Gedöns einfach nur schön am Wasser liegt. Schwerin ist Mecklenburg im fortgeschrittenen Stadium der Gentrifizierung. Es gibt dort Jaques Wein-Depot, Menschen mit Nerd-Brillen und eine Bio-Bäckerei mit zwei strengen Oberlehrerinnen hinterm Tresen. Jetzt noch ein paar Land Rover mehr in der Stadt und man käme sich vor wie in Schwabing.
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